Annekatrin Puhle: Geister der Goethezeit. In: Moritz Bassler, Bettina Gruber und Martina Egelhaaf (Hgg) : Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S.77-90. 356 pp., EUR 48. ISBN 3 – 8260 – 2608 – X
Geister der Goethezeit
Geistererscheinungen gehören keineswegs der Vergangenheit an. Sie sind universell wie aktuell. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Industrieländern hat heute schon einmal eine geisterhafte Erscheinung gehabt. Doch was ist ein Geist? Auf diese Kernfrage werden zehn klassische Antworten gegeben, die im Laufe der Jahrhunderte gefunden wurden. Untrennbar verbunden mit diesen Erklärungsversuchen ist die Frage nach der Art der Wahrnehmung von Geistern. Hier sind fast alle bekannten Sinne beteiligt, denn Geister können nicht nur gesehen, gehört, gerochen oder gespürt werden, sondern ihre Anwesenheit kann auch mithilfe eines Gefühls, einer Ahnung oder eines “inneren Sinnes” registriert werden. Die Studie mündet in die Frage nach dem Wert von Erscheinungen: Sind Geister Unterhaltungsobjekte und bedeutungslose Phantasieprodukte? Die vorgestellten Gedankengänge werden anhand von Beispielen aus der Goethezeit illustriert.
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Abbildung: Edith Weiß, Wien: Blumenstrauß voller Geister. 1998.
“O gibt es Geister in der Luft,
Die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben,
So steiget wieder aus dem goldnen Duft
Und führt mich weg, zu neuem buntem Leben.”
Der Streifzug durch die Geisterwelt der Goethezeit soll unter fünf Aspekten geschehen:
I Geister als Weltbürger
II Was ist ein Geist?
III Geister und Sinne
IV Geister zum Spaß?
V Geist und Sinn
I Geister als Weltbürger
“Man muß nur in die Fremde gehen, um das Gute kennenzulernen, was man zu Hause besitzt”,
lauten die Worte Goethes an Franz Kirms aus dem Jahr 1797, die sich ohne weiteres auf Geister übertragen lassen.
Welche Geister besitzt etwa der Münsterländer? Wir lesen bei Annette von Droste-Hülshoff, die nach ihren eigenen Worten ein “Stockwestfale, nämlich ein Münsterländer” ist:
“Der Münsterländer ist überhaupt sehr abergläubisch, sein Aberglaube aber so harmlos wie er selber. Von Zauberkünsten weiß er nichts, von Hexen und bösen Geistern wenig, obwohl er sich sehr vor dem Teufel fürchtet, jedoch meint, daß dieser wenig Veranlassung finde, im Münsterlande umzugehen. Die häufigen Gespenster in Moor, Heide und Wald sind arme Seelen aus dem Fegefeuer, deren täglich in vielen tausend Rosenkränzen gedacht wird, und ohne Zweifel mit Nutzen, da man zu bemerken glaubt, daß die “Sonntagsspinnerin” ihre blutigen Arme immer seltener aus dem Gebüsche streckt, der “diebische Torfgräber” nicht halb so kläglich mehr im Moore ächzt und vollends der “kopflose Geiger” seinen Sitz auf dem Waldstege gänzlich verlassen zu haben scheint.”
Geister gibt es nicht nur im Münsterland, sie sind echte Weltbürger, auch wenn sie nicht überall in der gleichen Aufmachung erscheinen – ebensowenig, wie dies Menschen zu zu tun pflegen. Geister gibt es nicht nur überall, sie sind auch alt, jahrtausendealt, so alt, wie die Menschheit selbst. Ebenso alt ist auch die Frage, was es damit denn wirklich auf sich hat. Alle Aufklärung und technischer Fortschritt haben es bis heute nicht vermocht, Geister ein für alle mal aus dem menschlichen Leben zu verbannen. Diese Peinlichkeit ist wohl einer der besten Gründe dafür, daß kaume eine/r es wagt, seinen Glauben an Geister offen einzugestehen. In der Goethezeit wäre dies weniger schlimm gewesen als heute, denn:
“Wer keinen Geist hat, glaubt nicht an Geister”,
sprach Goethe zu dem Kanzler Friedrich von Müller am 15. Mai 1823. Geister gibt es und gab es, nur finden sie keinen richtigen Platz in dieser Welt und werden auf verschiedene Ebenen verschoben, denn sie einfach in der schlichten Realität zu belassen, bereitet dem Geist der heutigen Zeit Unwohlsein. Es werden typische Fragen aufgeworfen, wenn sich der menschliche Verstand mit dem Erscheinen von Geistern konfrontiert sieht:
Gehören sie in diese Welt oder in eine andere?
Sind sie real oder irreal?
Sind sie sichtbar oder unsichtbar,
feinstofflich oder gar nicht stofflich?
Sind sie objektiv oder subjektiv?
Esixtieren sie überhaupt?
Dies sind Fragen über Fragen, die zeigen, wie unpassend Geister erscheinen. Eines ist jedenfalls gewiß: Geistererscheinungen sind weder Geschichte noch Geschichten, auch wenn manche von ihnen Geschichte machen.
Rund 60% der Bevölkerung in Industrieländern haben in ihrem Leben schon einmal eine paranormale, geisterhafte Erscheinung erlebt. Alles nur Phantasie und Einbildung? Oder lassen sich solche Erscheinungen irgendwie mit der Realität verknüpfen? Fakt ist weiter, daß 10% im Wachzustand und ohne Einfluß von Drogen eine “lebendige, realistische Halluzination einer Person” gehabt haben, wobei 0,5% dieser Erscheinungen mit dem Tod der halluzinierten Person zusammenfielen. Dieser scheinbar kleine Wert liegt jedoch im Verhältnis zur Häufigkeit von Todesfällen statistisch gesehen weit über der Zufallserwartung. Eine italienische Untersuchung von Geistererscheinungen ergab, daß einer von sechs Todesfällen von einer paranormalen Erfahrung eines Familienmitgliedes des Verstorbenen begleitet wurde, und eine Studie des isländischen Psychologie-Professors Erlendur Haraldsson hat gezeigt, daß in einem Drittel der Fälle die Gegenwart und das Aussehen der betreffenden Erscheinung von außenstehenden Beobachtern bezeugt werden konnte. Es fällt daher schwer, Geisterscheinungen daher keineswegs als bloße Phantasie zu entwerten.
Im Laufe der letzten sechs Jahre habe ich über 2000 deutschsprachige Bücher über Geister an Bibliotheken in Deutschland, Österreich, England und Schweden ausfindig gemacht, die teils reine Forschungsbibliotheken, Staats- und Stadtbibliotheken, Priesterseminare, Kloster- und Schloßbibliotheken sind oder zu Universitäten gehören, darunter die Herzog-August Bibliothek in Wolfenbüttel, die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, die Bibliothek des Klosters Beuron, die Bibliotheken der Priesterseminare in Speyer und Trier, die Bayerische Staatsbibliothek in München, die Bibliotheken des “Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene” in Freiburg i.Br. und des “Instituts für Grenzgebiete der Wissenschaft ind Insbruck”, ferner die Österreichische Nationalbibliothek in Wien, die Klosterbibliothek Melk (Österreich), die Bibliothek der schwedischen Gesellschaft für Parapsychologie in Stockholm, dieHarry-Price-Library in London und die UniversityLibrary in Cambridge u.v.a. mehr, d.h.insgesamt über zwanzig verschiedenen Bibliotheken.
“Der Deutsche schrieb von jeher sehr fleißig”, stellt Conrad Georg Horst ganz richtig fest, selbst Autor eines unausschöpflichen Geister-Kompendiums, der berühmten sechsbändigen “Zauber-Bibliothek”, erschienen 1821-26. Es ist eines der drei großen Geister-Klassiker aus der Goethezeit, die ich Ihnen hier vorstellen möchte.
Der evangelische Pfarrer, Kirchenrat und Geheimrat Georg Conrad Horst aus Lindheim, Hessen, (1769 bis 1832) gehört zu denjenigen Wissenschaftlern, die zu ihrer Zeit und, wie wir heute sehen können, auch darüber hinaus, den Überblick über die Geisterszene der Goethezeit hatten, Doch: “Was ist denn nun ein Gespenst?” fragt Horst und kommt zu dem nachvollziehbaren Schluß, daß “trotz des allgemeinen Völkerglaubens an Gespenster, im ganzen weiten Geisterreich kein Begriff vager als der eines Gespenstes” sei.
II Was ist ein Geist?
“Denn wo Gespenster Platz genommen, ist auch der Philosoph willkommen.”
Wie haben sich die historischen Autoren zu der schlichten Frage, was ein Geist sei, geäußert? In einem anonym erschienenen Buch Adam Koepkes, das 1749, in Goethes Geburtsjahr, bereits in 3. Auflage unter dem Titel “Schriftmäßige Erklärung der wahrhafftigen Erscheinung Samuels nach seinem Tode” erschien, heißt es:
“Ein gewisser erleuchteter Autor hat von den Erscheinungen der Geister diesen Begriff.
Die Seele fährt nicht zum Munde aus, gleich einem cörperlichen Wesen, sie ist ohne Leib, und tritt alsbald nach ihrem Abschiede in die Thoren der Tieffe, und womit sie bekleidet ist, das fasset sie, und behält es. […] Darum begiebt sichs oft, daß man des Verstorbenen Geist siehet umgehen, auch reuten, oder fahren, oft in Feuer=Gestalt, oder anderer Unruhe, alles nachdem die Seele ist bekleidet gewesen in der Zeit ihres irdischen Lebens, solche Gestalt behält sie nach ihrem Abschiede. Hat sie es nun hier gut gebacken, so isset sie es nun gut.[…]
Und so folgen einem seine Werke nach, was er sowol in sich selbst, als in andern gesäet, das wird er nach dem Tode zu Erndten haben. […] Weil sie nun unglücklich seyn, das Ewige nicht finden, und das Vergängliche noch in sich, nach der Begierde, suchen, so sehnen sie sich wiederum nach dieser Welt, und darum so erscheinen sie in grosser Quaal und Verwirrung, und müssen sich oft wol, etlichs Secula durch, mit solchen Begierden schleppen und plagen. Wie man dann aus der Erfahrung weiß, daß noch Geister, vor der Reformation her, sich dann und wann sehen lassen. Wer sich nun von allen los gemacht, und in Christo seine Ruhe gefunden, der hat dann auch in Ihm Leben, und voll Gnüge.
Joh. 10. V. 11.”
Wer nun das “Natürliche Zauber-Lexikon” des Apothekers Johann Christian Wiegleb aus dem Jahr 1784 öffnet und unter dem Stichwort “Geister” nachliest, dem weht eine frische Brise kritischen, “natürlichen” Denkens entgegen:
“Man begehrt hier nicht auszumachen, ob es dergleichen Geister oder Gespenster gebe, indem man die Seele und Engel noch nicht so ausstudirt, daß man davon aus ihrem Wesen und Umständen urtheilen kan. Sondern man will vorjetzo nur von den so berufenen Berggeistern etwas weniges reden. Zu Zeiten des Ludw. Lavaters und des gelehrten Agricola war es Mode, dergleichen zu glauben, und dieselbe also genau zu bestimmen, daß sie wie die menschliche Bergknappen und selbigen ganz bekannt gewesen seyn sollen. Aber zu unserer Zeit will sich kein so Berggeist oder Kobolt mehr sehen lassen, indem kein jetziger Bergmann dergleichen gesehen zu haben sich rühmen will. Warum sind doch diese Bergmänngen so neidisch, daß sie sich nimmer wollen sehen lassen? Es scheint aber, daß diese armen Teufelgen vertrieben seyen, da man zu unsern Zeiten eine bessere Einsicht, wie die Steine wachsen, und sie Crystallen in den Bergwerken anschiessen, hat, welches man vor Zeiten alles diesen Männern zu besorgen gleichsam überlassen.”
Den großen Überblick über das, was die gelehrten Geister aller Zeiten von Geistern zu sagen wußten, bietet die “Zauber-Bibliothek” von Georg Conrad Horst. Danach verstehen Alberti (“Dissert. de spectris”) und Gehres (“Dissert. de morbis a spectrorum apparitione oriundis”) Gespenster als den menschlichen Sinnen durch Illusion und die Künste des Teufel vorgehaltenen Dinge (Objecta sensibus humanis illusione et technis Diaboli oblata). Romanus nennt sie “schreckhafte Erscheinungen des Teufels”, ähnlich auch der seinerzeit berühmte Jurist Stryck. Auch nach Christian Thomasius sind Gespenster Schreckgespenster. Der Superintendent Schwarze (“Ungegründete Leugnung der Gespenster”, 1779) definiert Gespenster als “endliche geistige Substanzen, die von den Engeln und Seelen der Menschen verschieden (also Mittelgeister zwischen beiden) und von Gott zu verschiedenen weisen Absichten erschaffen sind”, die selbst wenn sie Schaden anrichten, doch nach dem Willen Gottes handeln. Reichhard definiert ein Gespenst als “eineden äußeren Sinnen bemerkbare ungewöhnliche Erscheinung, die eben wegen des Ungewöhnlichen die Menschen in Furcht setzet, und zur wirkenden Ursache weder Gott, noch gute Engel, noch einen hienieden lebenden Menschen hat, dennoch aber wegen der Verrichtungen einen endlichen Geist erheischet”. Der Autor des 1764 erschienenen Buches “Ob ein vernünftiger Mann an Gespenster glauben könne?”, Pfarrer Stützing, analysiert: “Ein Gespenst ist eine ungewöhnliche Erscheinung eines erschaffenen geistigen Wesens, mit welchem wir ordentlicherweise sonst in keiner gewöhnlichen und sichtbaren Verbindung stehen”, wobei Erscheinungen nicht nur “Gegenstände für die Augen, sondern auch fürs Gehör und für die übrigen Sinne” seien, und Horst schließt hier die Frage an, ob man ein Gespenst denn auch riechen oder schmecken könne. Sein Lächeln ist unberechtigt, denn es werden durchaus olfaktorische Wahrnehmungen von Geistern berichtet. Horsts Urteil über die erwähnten Geister- ”Umschreibungen”, wie er die genannten Definitionsversuche nennt, fällt insgesamt nicht sehr positiv aus, glaubt er doch, daß “die eine inhaltsleerer, als die andere ist, um nicht zu sagen, abgeschmackter”.
Konkreter werden der Philosoph und Arzt Paracelsus und der westfälische Pastor und Professor Heinrich Nollius im 16. und 17.Jh. (Physica hermetica Lib.III, Anfang des 17.Jhs): Gespenster sind Elementargeister, d.h. Feuer-, Luft-, Wasser- und Erdgeister. Auch die Astralkörper der Menschen, wörtlich Sternenkörper, können sich nach dem Tod des physischen Körpers noch eine Zeitlang sehen lassen und herumspuken, wie es neben Paracelsus etwa Jakob Böhme, Robert Fludd und Sebastian Würdig annehmen. Negativ gewandt sind es nichts Edleres als die “Ausdünstungen der verwesenden Leichname”, die sich nachts zu der geisterhaften Gestalt eines verstorbenen Menschen formieren, wie es etwa der italienische Mathematiker, Philosoph und Arzt Geronimo Cardano (16.Jh.), der Gelehrte Julius Cäsar Vanini (16./17.Jh.) und der Franzose Jaques Gaffarel (17.Jh.) behaupten. Diese Ansichten klingen schon für Horsts Ohren recht modern, suchen sie doch nach natürlichen Erklärungen. Ein uralter Volksglaube, der mit dem Urchristentum und den Kirchenvätern übereinstimmt, hält Geister für die “Erscheinungen von unselig, oder wenigstens mit einem besonderen, sie noch an die Erde fesselnden, Verlangen verstorbenen Personen” – ein Standpunkt, der Horst viel zu einfach erscheint, ist doch die Sache “wirklich schwerer und beziehungsreicher”.
Was sind nun Geister? Zehn klassische Antworten, die Jahrhunderte überdauert haben, lauten:
1. Geister sind Betrug
2. Geister sind Sinnestäuschungen
3. Geister sind alte Gottheiten
4. Geister sind Naturwesenheiten
5. Geister sind von Gott geschaffene Wesen
6. Geister sind vom Teufel geschaffene Wesen
7. Geister sind verstorbene Menschen oder Tiere bzw. deren Seelen
8. Geister sind die subtilen Körper von lebenden Menschen oder Tieren
9. Geister sind Projektionen von Menschen
10. Geister sind Kreationen von Menschen
III Geister und Sinne
Im Faust I stehen die vielversprechenden Worte:
“Jetzt erst erkenn’ ich, was der Weise spricht:
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen,
Dein Sinn ist zu, Dein Herz ist tot!”
Sind unsere Sinne offen, dann können wir u.U. Geister sehen, hören, riechen, spüren, fühlen, ahnen und ahnden oder mit einem inneren Sinn wahrnehmen.
Das Sehen von Geistern erscheint von allen sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten als die glaubhafteste – allemal in einer Zeit, in der der Zeitgeist das visuelles Aufnahmevermögen der Menschen mit allen Finessen ausreizt. Die optische Wahrnehmung ist in sich höchst komplex, weshalb hier eine spezifische Art aus diesem Bereich herausgegriffen sei, und zwar das ‘Zweite Gesicht’ – es liegt im Münsterland in der Luft und den Münsterländern im Blut.
Horst hat dieses Thema nicht nur in seiner Zauber-Bibliothek behandelt, sondern ihm ein eigenes, zweibändiges, außerordentlich aufschlußreiches Werk mit dem Titel “Deuteroskopie” (1830) gewidmet – der vom Griechischen abgeleitete Begriff bedeutet wörtlich “zweites Sehen”.
Das große Werk ist “für Religionsphilosophen, Psychologen und denkende Aerzte” gedacht, wie sich dem Untertitel des 1830 veröffentlichten Werkes entnehmen läßt. Ein Blick in diese Schrift mag vielleicht auch einem nicht denkenden Arzt oder Gelehrten gewisse Einblicke ermöglichen.
“Das andere Gesicht – second sight – auch das zweite oder das doppelte Gesicht genannt, besteht in dem Vermögen, Begebenheiten und Thatsachen, welche sich entweder in der nächsten Gegenwart, oder in der Zukunft ereignen werden, vermittelst der Organe des natürlichen Gesichts auf eine symbolische Weise wahrzunehmen, und zwar also, daß das Abwesende und Zukünftige, als dabei vor den Augen gegenwärtig erscheint, und in sinnbildlichen Repräsentationen angeschaut wird[…]. Daß übrigens Gesichte dieser Art immer zugleich auch einen divinatorischen Charakter haben müssen, ergibt sich von selbst hieraus, daher diejenigen, welche die Gabe, solche Gesichte zu sehen, besitzen, Deuteroskopen oder schlechthin Seher genannt werden.”
Das Zweite Gesicht ist charakteristisch für bestimmte Gegenden wie etwa Hochschottland und die Hebriden, wo es nur selten bei Frauen vorkam, und innerhalb Deutschlands für Westfalen. Bemerkenswert an diesem Sehen ist, daß “es im wachenden Zustand und bei Bewußtsein statt findet”.
Auch in dem nächsten Geister-Klassiker der Goethezeit können wir über das Zweite Gesicht nachlesen. Der Verfasser der weltberühmt gewordenen “Seherin von Prevorst” – das Buch erschien 1929 in 1. Auflage – ist der schwäbische Arzt und Dichter Justinus Kerner (1786-1862), ein vielseitig Gelehrter, der mütterlicherseits mit dem Märchendichter Wilhelm Hauff und väterlicherseits mit Ludwig Uhland verwandt ist.
Kerner beschreibt das Zweite Gesicht ganz generell, das er an seiner Patientin Friederike Hauffe aus nächster Nähe beobachten konnte:
“Es ist bekannt, daß die Gabe des zweiten Gesichts sich an mehreren Orten endemisch zeigt, wie z.E. unter den schottischen Inselbewohnern und in Dänemark. In Schottland haben die Menschen, die diese Gabe besitzen, den sogenannten Stechblick. Es ist dieß der eigenthümliche Blick, wo alles Geistige im Menschen wie auf ein Pünktchen im Auge concentrirt ist, das dann wie verlängert und leuchtend heraustritt, ein Blick, den ich an Frau H. in Momenten, wo sie sich selbst, oder wo sie Geister sah, oft beobachtete. Der schottische Seher ist im Augenblicke des Gesichtes starr, mit aufgerissenen Augenlidern, er sieht und hört (wie auch Frau H. beim Selbstsehen) nicht anders. Berührt der Seher im Augenblicke des Gesichtes einen Andern, so entsteht dasselbe Gesicht auch in diesem, ja selbst in Thieren, die der Seher oder die Seherin in diesem Augenblick berührt.”
Das berühmteste Beispiel für das Zweite Gesicht in Deutschland finden wir in Annette von Droste-Hülshoff, der es gerne nachgesagt wird, auch wenn sie alles andere als weltfremd war:
“Voll männlicher Kraft, allem Weichlichen abhold, liebt sie es überhaupt, die Dinge mit ihrem wahren Namen zu nennen, und darum sind einzelne ihrer Schilderungen von einer fast derb zu nennenden Realistik”.
Die Dichterin beschreibt diese Eigenschaft in ihrer Ballade “Vorgeschichte” als große Last.
Auch Horst kann die Bürde dieser Gabe nicht beschönigen und nennt sie:“Eine in einer Welt, wie die unsrige ist, wahrlich nicht sehr zu beneidende Geistes=Eigenthümlichkeit”. Man hält diese in Westfalen fast jedem Zehnten, in Hochschottland fast jedem gegebene, höchst unglückliche Gabe besser geheim, erklärt Droste-Hülshoff, und beschreibt sie detailliert in ihrer Erzählung “Bilder aus Westfalen”:
“Größere Aufmerksamkeit […] verdient das sogenannte “Vorgesicht”, ein bis zum Schauen oder mindestens deutlichem Hören gesteigertes Ahnungsvermögen, ganz dem Second sight der Hochschotten ähnlich und hier so gewöhnlich, daß, obwohl die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheimgehalten wird, man doch überall auf notorisch damit Behaftete trifft und im Grunde fast kein Eingeborner sich gänzlich davon freisprechen dürfte. Der Vorschauer (Vorkieker) im höheren Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem geisterhaften Blitze der wasserblauen Augen und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe; übrigens ist er meistens gesund und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und ohne eine Spur von Überspannung, Seine Gabe überkommt ihn zu jeder Tageszeit, am häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht und von fieberischer Unruhe ins Freie oder ans Fenster getrieben wird; dieser Drang ist so stark, daß ihm kaum jemand widersteht, obwohl jeder weiß, daß das Übel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe gesteigert wird; wogegen fortgesetzter Widerstand es allmählich abnehmen und endlich gänzlich verschwinden läßt. Der Vorschauer sieht Leichenzüge, lange Heereskolonnen und Kämpfe, er sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fechtenden, beschreibt genau ihre fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte in fremder Sprache, die er verstümmelt wiedergibt und die vielleicht erst lange nach seinem Tode auf demselben Flecke wirklich gesprochen werden. Auch unbedeutende Begebenheiten muß der Vorschauer unter gleicher Beängstigung sehen, zum Beispiel einen Erntewagen, der nach vielleicht zwanzig Jahren auf diesem Hofe umfallen wird; er beschreibt genau die Gestalt und die Kleidung der jetzt noch ungebornen Dienstboten, die ihn aufzurichten suchen; die Abzeichen des Fohlens oder Kalbes, das erschreckt zur Seite springt und in eine jetzt noch nicht vorhandene Lehmgrube fällt, usw. Napoleon grollte noch in der Kriegsschule zu Brienne mit seinem beengten Geschicke, als das Volk schon von “silbernen Reitern” sprach, mit “silbernen Kugeln auf den Köpfen, von denen ein langer schwarzer Pferdeschweif” flatterte, sowie von wunderlich aufgeputztem Gesindel, was auf “Pferden wie Katzen” (ein üblicher Ausdruck für kleine knollige Rosse) über Hecken und Zäune fliege, in der Hand eine lange Stange mit eisernem Stachel daran. – Ein längst verstorbener Gutsbesitzer hat viele dieser Gesichte verzeichnet, und es ist höchst anziehend, sie mit manchem späterem entsprechenden Begebnisse zu vergleichen. – Der Minderbegabte und nicht bis zum Schauen Gesteigerte “hört” – er hört den dumpfen Hammerschlag auf dem Sargdeckel und das Rollen des Leichenwagens, hört den Waffenlärm, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der Rosse und den gleichförmigen Tritt der marschierenden Kolonnen. Er hört das Geschrei der Verunglückten und an Tür oder Fensterladen das Anpochen desjenigen, der ihn oder seinen Nachfolger zur Hilfe auffordern wird. Der Nichtbegabte steht neben dem Vorschauer und ahnt nichts, während die Pferde im Stalle ängstlich schnauben und schlagen und der Hund, jämmerlich heulend, mit eingeklemmten Schweife seinem Herrn zwischen die Beine kriecht. Die Gabe soll sich jedoch übertragen, wenn ein Nebenstehender dem Vorkieker über die linke Schulter sieht, wo er zwar für dieses Mal nichts bemerkt, fortan aber für den andern die nächtliche Schau halten muß. Wir sagen dies fast ungern, da dieser Zusatz einem unleugbaren und höchst merkwürdigen Phänomen den Stempel des Lächerlichen aufdrückt. – Wir haben den Münsterländer früher furchtsam genannt, dennoch erträgt er den eben berührten Verkehr mit der übersinnlichen Welt mit vieler Ruhe, wie überall seine Furchtsamkeit sich nicht auf passive Zustände erstreckt. Gänzlich abgeneigt, sich ungesetzlichen Handlungen anzuschließen, kommt ihm doch an Mut, ja Hartnäckigkeit des Duldens für das, was ihm recht scheint, keiner gleich, und ein geistreicher Mann verglich dieses Volk einmal mit den Hindus, die, als man ihnen ihre religiösen und bürgerlichen Rechte schmälern wollte, sich zu vielen Tausenden versammelten und, auf den Grund gehockt, mit verhüllten Häuptern standhaft den Hungertod erwarteten. Dieser Vergleich hat sich mitunter als sehr treffend erwiesen.
[…] – Müssen wir noch hinzufügen, daß alles bisher Gesagte nur das Landvolk angeht? Ich glaube, nein; Städter sind sich ja überall gleich, Kleinstädter wie Großstädter. – Oder, daß alle diese Zustände am Verlöschen sind und nach vierzig Jahren vielleicht wenig mehr davon anzutreffen sein möchte? – Auch leider nein, es geht ja überall so!”
IV Geister zum Spaß?
“Glaubt Ihr, der Umgang mit Geistern sei eine lustige Sache?”
“Es war rasend behaglich; zuletzt kamen Gespenstergeschichten aufs Tapet […]”, schreibt Theodor Storm, der ein begeisterter wie begabter Erzähler von Spukgeschichten war, über einen Abend beim Landrat von Wussow. Spukhafte, gruselige Atmosphäre kann eine ungeheure Anziehungskraft auf Menschen ausüben. Für viele sind Geistergeschichten auch ohne jeglichen Anspruch auf Wahrheitsgehalt attraktiv; ihre Echtheit gibt quasi nur noch die Würze. Für Storm spielt allerdings beides eine Rolle, die Authentizität des Berichteten wie auch die künstlerische Qualität der Darstellung. Theodor Fontane erinnert sich an einen Abend mit dem Schrifsteller:
“Denselben Abend erzählte er auch Spukgeschichten, was er ganz vorzüglich verstand, weil es immer klang, als würde das, was er vortrug, aus der Ferne von einer leisen Violine begleitet. Die Geschichten an und für sich waren meist unbedeutend und unfertig, und wenn wir ihm das sagten, so wurde sein Gesicht nur noch spitzer, und mit schlauem Lächeln erwiderte er: >Ja, das ist das Wahre; daran können sie die Echtheit erkennen; solche Geschichte muß immer ganz wenig sein und unbefriedigt lassen; aus dem Unbefriedigten ergibt sich zuletzt die höchste künstlerische Befriedigung.< Er hatte uns nämlich gerade von einem unbewohnten Spukhause erzählt, drin die Nachbarsleute nachts ein Tanzen gehört und durch das Schlüsselloch geguckt hatten. Und da hätten sie vier Paar zierliche Füße gesehen mit Schnürstiefelchen und nur gerade die Knöchel darüber, und die vier Paar Füße hätten getanzt und mit den Hacken zusammengeschlagen. Einige Damen lachten, aber er sah sie so an, daß sie zuletzt doch in einen Grusel kamen.”
Eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich an die Gegenwart von Geistern zu gewöhnen und ihre Gutartigkeit zu erkennen, hatte etwa die Tochter des oben erwähnten Arztes Justinus Kerners, in dessen Haus mit seinen Patienten auch die Geister ein- und ausgingen.
In ihrem Buch über ihren Vater, “Justinus Kerners Jugendliebe und sein Vaterhaus”, erklärt Marie Niethammer:
[…] “die Geister wurden unsere Freunde, und sie brachten es nicht dazu, daß es uns gruselte.”
Die meisten Geister nahmen ihren Einzug in Kerners Haus sicherlich mit Friederike Hauffe, der Seherin von Prevorst, über die Kerner schreibt:
“Sie gehörte in eine Welt der Geister, sie selbst hier schon mehr als halber Geist; sie gehörte in den Zustand nach dem Tode, in dem sie schon hier oft mehr als halb war.”
Die kaum mehr zählbaren Geister, die Friederike Hauffe im Laufe ihres Lebens sah und mit denen sie mitunter auch kommunizieren konnte, ja oft mußte, weisen über die Dimension des Schauerlichen weit hinaus. So sah sie Geister von Verstorbenen, die Informationen vermittelten – auch ein Gerichtsfall konnte mithilfe eines ihrer Geister neu aufgerollt und dann zu einem besseren Abschluß gebracht werden; sie sah hinter jedem Menschen dessen Schutzgeist, von dem sie auf den Charakter des betreffenden Menschen, auch wenn ihr die betreffende Person ganz unbekannt war, schließen konnte – eine Eigenschaft, die in neuerer Zeit der französische Widerstandskämpfer Jaques Lusseyran in seiner Biographie “Das wiedergefundene Licht” beschreibt. Lusseyeran hatte als Kind auf grausame Art sein Augenlicht verloren, doch anstelle dessen später einen “inneren Sinn” für den Charakter und die Zuverlässigkeit eines Menschen entwickelt. Diese Fähigkeit konnte er in der Resistance erfolgreich einsetzen, indem er die Menschen prüfte, die in die Bewegung aufgenommen werden sollte – bis auf ein einziges Mal, wo er sich nicht sicher war und dem guten Ruf des einzustellenden Mannes nachgab und “ja” zu ihm sagte. Und hier handelte es sich tatsächlich um einen Betrüger, was Lusseyran auch fast das Leben gekostet hätte – mit einem Jahr Buchenwald kam er noch einmal davon.
V Geist und Sinn
“Die Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache.”
Die Geister der Goethezeit sind Geister der Vergangenheit. Vergänglichkeit ist ein Kennzeichen von Geistern. Sie verschwinden in der Regel ebenso unerwartet wie sie gekommen sind. Geister sind selbst das Vergänglichste, was wir kennen, und gleichzeitig Zeugen der Vergangenheit und Sterblichkeit. Der Geist, der als Geist eines Sterbenden oder schon Verstorbenen erscheint, konfrontiert die Menschen nicht nur mit dem Tod, sondern erweckt gleichzeitig die schöne Idee von der Möglichkeit eines Überlebens, ja sogar eines ewigen Lebens. Und das wirft ein neues Licht auf das jeztige Leben, ja wertet es auf, auch wenn es auf den ersten Blick wie eine Abwertung erscheinen könnte. Die Aufwertung liegt darin, daß sich der Mensch mit seinem Tod nicht einfach “aus dem Staube” machen kann, sondern daß er u.U. einen Zusammenhang zwischen dem späteren und dem gegenwärtigen Sein erkennt und sieht, daß es darauf ankommen könnte, wie er dieses Leben hier verbringt und ob er sein Tun und Lassen verantworten kann.
Der Spuk-Geist par excellence ist der unerlöste Geist. Eines der ältesten Beispiele für diesen Typus stammt bereits aus der Klassischen Antike. Der römische Schrifsteller Plinius der Jüngere berichtet um 100 n.Chr. von einem Spukhaus in Athen, in dem ein in Ketten gebundener Geist zu erscheinen und mit seinen Ketten zu rasseln pflegte: Der beherzte Philosoph Athenodoros zog in das verrufene Haus ein – und der Geist erschien wie erwartet, forderte Athenodoros auf, ihm zu folgen, und verschwand sogleich wieder. Der Philosoph ließ an besagter Stelle nachgraben, und, siehe da, es kamen die nicht rechtmäßig bestatteten Gebeine eines Menschen zum Vorschein. Diese wurden nun ordnungsgemäß bestattet, und der Spuk fand somit ein Ende. Es gibt eine deutsche Übersetzung dieser Schrift von Lukian aus dem Jahr 1545.
Mit den unerlösten Geistern, denen die Schweizer Psychoanalytikerin Aniela Jaffé in ihrem Buch “Geistererscheinungen und Vorzeichen” ein ganzes Kapitel widmet, klingt die uralte Frage nach dem Überleben der menschlichen Seele an, die einst gar keine Frage war. Geister erscheinen nicht nur zum Spaß. Das möge ein letztes Beispiel demonstrieren. Es ist einem weiteren Klassiker der deutschsprachigen Geisterliteratur entnommen, dessen Verfasser in freundschaftlichem Kontakt mit Goethe stand und ihm seine Biographie zur Veröffentlichung überließ (“Heinrich Stillings Jugend”, 1777). Es ist der anerkannte Augenarzt, genauer gesagt “Star-Stecher”, Heinrich Jung-Stilling (1740-1818):
Jung-Stilling berichtet von einem Fall aus dem Jahr 1768, den er aus erster Hand erhalten hat:
“Ich habe vor 40 Jahren einen sehr frommen und erleuchteten Handwerksmann gekannt, dessen tiefe Einsichten und in der That heiligen Carakter ich oft bewundert habe. Ich hab viel von ihm gelernt, und er sagte mir damals schon vieles voraus, das hernach erfüllt worden ist. Ich besuchte ihn auf seinem letzten Krankenlager und war ein Zeuge seines herrlichen Todes.
Dieser Freund hatte einen sittsamen, stillen, und eingezogenen Gesellen, mit dem er wegen seiner Kenntnisse und guten Aufführung auf einem vertrauten Fuß lebte. Beyde unterredeten sich oft von dem Zustand der Seelen nach dem Tod, vorzüglich aber auch von der Wiederbringung aller Dinge [Wiedervereinigung mit Gott]. Nach und nach wurde der Geselle schwindsüchtig, mein Freund behielt ihn auch in diesem Zustand bey sich, und leistete ihm gleichsam Gesellschaft bis an die Pforte des Todes. Während der ganzen Zeit der Krankheit wurden obige Gespräche immer fortgesetzt, und mein Freund wagte es den Gesellen zu bitten, daß er ihm, wenn er könne, nach seinem Tod erscheinen, und ihm von seinem Zustand, und von der Wiederbringung aller Dinge Nachricht geben möchte. Der Geselle versprach das unter dem Beding, wenn es ihm erlaubt wäre.
Bald nachher starb der junge Mensch, und nun harrte sein Meister auf seinen Besuch, und auf Nachricht aus der andern Welt. Etwa drey Wochen nach dem Tod des Gesellen, als der Meister Abends um 10 Uhr in seiner Schlafkammer sich ausgezogen hatte, eben ins Bett gestiegen war, und noch darinnen saß, so bemerkte er gegenüber an der Wand einen bläulichen Lichtschimmer, der sich zu einer menschlichen Figur bildete. Er fragte also ohne Furcht: bist du es, Johannes? – Der Geist antwortete vernehmlich, Ja! jener fragte ferner: wie gehts dir? – dieser erwiederte: ich befinde mich ruhig in einer öden dunklen Gegend, aber mein Schicksal ist noch nicht entschieden. Nun folgte auch die Frage wegen Wiederbringung aller Dinge. Der Geist antwortete darauf weiter nichts, als folgende Zeilen aus einem alten Lied:
Laßt uns den Herren bitten hie
Und niederfallen auf die Knie,
Laßt uns vor unserm Schöpfer bücken!
Das Wörtchen hie ist die Hauptsache. Hier sollen und wollen wir unsre Sache mit unserm Erbarmer ausmachen, und – wie mein seeliger Oheim Johann Stilling einst sagte – dafür sorgen, daß wir mit den Ersten über den Jordan kommen.
Mein Freund war so kühn, noch um einen Besuch zu bitten; nach einiger Zeit erfolgte er auch, aber der war fürchterlich; ich hab die näheren Umstände desselben nie erfahren können; so viel hatte es aber gefruchtet, daß der liebe Mann jedermann für einer solchen Vermessenheit warnte, und nun überzeugt war, daß wir diesseits durchaus keinen Umgang mit dem Geisterreich suchen, sondern ihn so viel als möglich vermeiden müsten.”
Was sagen nun die Berichte über Geister aus? Worauf zielen sie hinaus? Aus Goethes Mund, aus seinem Gedicht “Symbolon” (1815), hören wir die Antwort:
“Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten!”
Ist Goethe jemals nach seinem Tod als Geist erschienen? Es gibt diverse Berichte, doch einer der schönsten ist ein Traum. Viereinhalb Jahre nach Goethes Tod – es war die Nacht zum 14. November 1836 – träumt sein Schreiber Johann Peter Eckermann von einer bemerkenswerten Begegnung mit ihm. Er trifft Goethe in dessen Haus am Frauenplan, und nach einer herzlichen Begrüßung spricht er ihn gerade heraus an:
“Die Leute meinen, rief ich ihm lachend zu, indem ich seine Hand faßte, Sie wären tot; ich habe aber immer gesagt, daß es nicht so sei, und sehe nun zu meiner großen Freude, daß ich recht hatte. Nicht wahr, Sie sind nicht tot? “Die närrischen Leute”, erwiderte Goethe, indem er mich sehr schelmisch ansah, “tot? – was sollte ich tot sein! – Auf Reisen bin ich gewesen! Ich habe derweil viele Länder und Menschen gesehen; im letzten Jahr war ich in Schweden.” Dieses zu hören, erwiderte ich, ist mir unendlich lieb.”
Abbildung: Joseph Karl Stieler: Johann Wolfgang von Goethe. Aquarell, 26,3 x 27,9 cm, Ausschnitt. München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen.
Abbildung: Joseph Schmeller: Johann Peter Eckermann,1828.
Goethe, Johann Wolfgang von (1887-1919): Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar. (Sophien-Ausgabe). Faust I, Vor dem Tor, Faust, 1118ff.
Goethe, a.a.O., Goethes Briefe, An Franz Kirms, Frankfurt am 34. August 1797, Brief Nr.3638 ( 4.Abt., Bd.12, S.258)
Droste-Hülshoff, Annette Freiin von (1982): Droste-Hülshoffs Werke in einem Band. Ausgewählt und eigeleitet von Rudolf Walbinger. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar. S.287.
a.a.O., S.355
Goethe, a.a.O., Gespräche
Wagner, M.W., & Monnet, M. (1979): Attitudes of college professors toward extra-sensory perception. In: Zetetic Scholar, 5 (1979), S.7-17.
Gurney, Edmund; Myers, Frederic William H., & Podmore, Frank (1886): Phantasms od the living. London; West, Donald J. (1948): A Mass-observation Questionnaire on Halluzinations. In: Journal of the Society for Psychical Research, 34, S.187-196; West, Donald J. (1990): A pilot census of halluzinations. Proceedings of the Society for Psychical Research, 57, S.163-207.
Rinaldi, G.M. & Piccinini, G. (1982): A survey of spontaneous cases in South Tyrol. Unveröffentliches Manuskript.
Haraldsson, Erlendur (1981): Apparitions of the dead: A representative survey in Iceland. In: William George Roll & John Beloff (Hrsg.): Research in parapsychology. Metuchen, NJ, 1980, S. 3-5.
Horst, Conrad Georg (1821-1826): Zauber-Bibliothek oder von Zauberei, Theurgie und Mantik, Zauberern, Hexen, und Hexenprocessen, Dämonen, Gespenstern, und Geistererscheinungen. Zur Beförderung einer rein=geschichtlichen, von Aberglauben und Unglauben freien Beurtheilung dieser Gegenstände. Von Corad Georg Horst, Großherzoglich=Hessischem Kirchenrathe. 6 Teile, Mainz. Bd.1 1821, S.264.
a.a.O.,S.236
Goethe, Faust II, 2.Akt, Walpurgisnacht, Am Oberen Peneios wie zuvor, Mephistopheles, 7843f.
Koepke, Adam (1749): Schriftmäßige Erklärung der wahrhaftigen Erscheinung Samuels nach seinem Tode, I, Samuelis 28.v.7 = = = 20. Wie solche, auf Gottes Zulassung dem Könige Saul wiederfahren. Nebst einem Anhange wahrhaftiger Geschichte von einigen erschienenen Geistern nach dem Tode, Und bescheidene Gedancken über die Erscheinung der Seelen nach dem Tode, wozu noch einige Eröfnungen von den Himmlischen Wohnungen der seeligen Seelen, Und auch von dem Zustande der Verdammten, Nach der Wahrheit mitgetheilet werden. 3. und vermehrte Aufl., Prenzlau und Leipzig. S.67f.
Wiegleb, Johann Christian (1784): Onomatologia curiosa artificiosa et magica. Oder natürliches Zauber-Lexikon, in welchem vieles Nützliche und Angenehme aus der Naturgeschichte, Naturlehre und natürlichen Magie […]. Nürnberg: Raspische Buchahndlung. Sp.747.
Horst, a.a.O , S.237.
a.a.O.
a.a.O., S.238
Reichard, Elias Caspar (1780-1788): Elias Caspar Reichards, Professor und Rectors des Stadtgymnasiums zu Magdeburg vermischte Beyträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich. Zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens. Als eine Fortsetzung von D. David Eberhard Haubers Magischen Bibliothek herausgegeben. 2 Bde., Helmstedt. Bd.1 1781, S.240.
Horst, a.a.O., S.238f
a.a.O.
a.a.O., S.240
Goethe, Faust I, Nacht, 442f
Horst, Conrad Georg (1830): Deuteroskopie, oder merkwürdige psychische und physiologische Erscheinungen und Probleme aus dem Gebiete der Pneumatologie. Für Religionsphilosophen, Psychologen und denkende Aerzte. Eine nöthige Beilage zur Dämonomagie wie zur Zauber=Bibliothek. 2 Bde., Frankfurt a. M.. Bd.1, S.9.
a.a.O., S.21, Anm.
a.a.O., S.10
Kerner, Justinus (1829/1892): Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. Stuttgart, 1829. 6.Aufl. 1892, S.103.
Riehmann in: Droste- Hülshoff, Annette Freiin von (1912): Dichtungen Annettes von Droste-Hülshoff, ausgewählt und erläutert von Dr. Joseph Riehmann. Paderborn. S.6.
Horst 1830, a.a.O., Bd.1, S.213.
Zur Bonsen, F. (1907): Das zweite Gesicht. Die <Vorgeschichten> nach Wirklichkeit und Wesen. Köln. S.20.
Droste Hülshoff 1982, a.a.O., S.356-359
Goethe, Der Groß-Cophta, II, 5
Storm, Gertrud (Hrsg.) (1815): Theodor Storm. Briefe an seine Frau. Braunschweig. Brief vom 11.7.1858, S.52.
Fontane, Theodor (1967): Kapitel: Theodor Storm. In: Von Zwanzig bis Dreißig, in: Sämtliche Werke, München, S.205f .
Niethammer, Marie (1877): Justinus Kerners Jugendliebe und mein Vaterhaus. Stuttgart, S.188.
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Lusseyran, Jaques (1966/1994): Das wiedergefundene Licht. Aus dem Französischen übersetzt von Uta Schmalzriedt. 11.Aufl., Stuttgart, 1994.
Goethe, Der Groß-Cophta, III, 9
Philopseudes Luciani: “Ein gespräch Luciani/ Ob man der Zawberey und Poldergaystern glauben soll[…]”, Augspurg 1545.
Jaffé, Aniela (1958/1995): Geistererscheinungen und Vorzeichen. Zürich, 1958, 3. überarbeitete Aufl., mit einem Vorwort von C.G. Jung, Einsiedeln.
Jung-Stilling, Johann Heinrich (1808): Theorie der Geister=Kunde, in einer Natur= Vernunft= und Bibelmäsigen Beantwortung der Frage: Was von den Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße. Nürnberg. S.267-269.
s. Puhle, Annekatrin (Frühjahr2005): Mit Goethe durch die Welt der Geister. 4 Bde., St. Goar: Reichel Verlag Der Leuchter. Bd 2, Kap. “Geister von Verstorbenen”.
Goethe, Johann Wolfgang von (28.8.1949): Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. Zürich und München: Artemis Verlag, 28.8.1949. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 14. November 1836, S.774ff.
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1 Ron // Jan 29, 2019 at 17:15
“Wer sie nicht kennte,
Die Elemente,
Ihre Kraft
Und Eigenschaft,
Wäre kein Meister
Über die Geister…”
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