Annekatrin Puhle, Dr.phil. / PhD

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Doktorarbeit: ‘Persona'

Auf dem Philosophenweg, St. Moritz. Foto: Adrian Parker.

Annekatrin Puhle: Persona – Zur Ethik des Panaitios. 

Philosophische Dissertation, Freie Universität Berlin.

Reihe: Europäische Hochschulschriften / European University Studies / Publications Universitaires Européennes – Band 224

Frankfurt/M., Bern, New York, Paris, Peter Lang: 1987. X, 290 S. ISBN 978-3-8204-9202-6 br. (Softcover)

Über das Buch

Panaitios’ Theorie der vier «personae» des Menschen wirft die Frage nach der Individualität auf. Die vorliegende Arbeit hebt den Gedanken der vierten, aus Freiheit gewählten «persona» hervor, die nicht den rolle-spielenden Menschen, sondern die harmonische individuelle Persönlichkeit meint. Die ästhetische Komponente des Formens der «persona» durch das Wahren des «decorum» begründet die ethische Bedeutung der Individualität. Das Ideal des stoischen Weisen ist dem wirklichen, individuellen Menschen gewichen. Die Praxis gewinnt Bedeutung gegenüber der Schultheorie, der Mensch legt Hand an die Natur. Insofern ist Panaitios’ Philosophie eine Revision der Stoa.

Inhalt

Aus dem Inhalt: Individualität bei Panaitios? – Die vier «personae» des Menschen – Das «decorum» – Individualität oder Rollenspiel? – Ausblick: Renaissance und Humanismus/Shaftesbury/Goethezeit – Fragmente zu Panaitios (mit Übersetzung).

Rezensionen

«Die Verfasserin hat das Verdienst, Gedanken des Panaitios mit moderner Begrifflichkeit ganz unterschiedlicher Provenienz konfrontiert und die Aktualität dieser Gedanken erwiesen zu haben. Was kann einem antiken Autor Besseres zuteil werden?» (Hans Armin Gärtner, Gnomon)

Rezension von Hans Arnim Gärtner. In: GNOMON 59, 1987. S.432-435.

Annekatrin Puhle: Persona. Zur Ethik des Panaitios. Frankfurt am Main/Bern/New York: Lang 1987. X, 290 S. (Europäische Hochschulschrifren, Reihe 20: Philo­sophie. 224.) 65 sfr.

Frau Puhle will die Frage klären, ob „viele Rezipienten und Interpreten» des Panaitios mit Recht „schon“ bei ihm “den philo­sophischen Gedanken der Individualität er­kannten“, “den man aIlgemein frühestens in der Renaissance entstanden sieht” und wei­ter die mit diesem Problem verbundene „un­gewöhnliche Frage, . . . ob Panaitios auch ei­ne Individualethik verfasst hat“ (S. 2).

Das erste Kapitel (9-43) ist der Entste­hung und aktuellen Bedeutung des Begriffes ‘Individualität’ gewidmet, dabei werden An­haltspunkte für tatsächlich ‘gelebte’ Indivi­dualitär vor Panaitios gesucht, ferner wer­den Begriffserklärungen von ‘Individuali­tät’, ‘Person’ und ‘Individualethik’ geboten; den Abschluss bildet ein Überblick über das, was vor Panaitios als Ausdruck der Indivi­dualität gegolten hat.

Nach dieser Vorabklärung wird im zwei­ten Kapitel (44-80) der Naturbegriff des Panaitios im Kontrast zum stoischen behan­delt. – Den grössten Raum gibt die Verf. mit ihrem dritten Kapitel (81-121) einer einge­henden Erörterung der vier personae des Menschen im Dichter- bzw. Schauspieler­vergleich des Panaitios (Cic., de off. I 93­-125), kontrastiert sie mit den Auffassungen der orthodoxen Stoa und Demokrits, legt dabei besonderes Gewicht auf die selbstbestimmte’ Person und erörtert in die­sem Zusammenhang den Freiheitsgedanken bei Panaitios und den anderen Stoikern. ­Das vierte und fünfte Kapitel (122-150, bzw. 151-157) bieten, an Ciceros erstem Buch von de officiis entlanggehend, eine Diskussion der Begriffe honestum und offi­cium, des Masses fur das Handeln, des ‘Te­los’ und der vier Kardinaltugenden. Unter der Üeberschrift des decorum, in dem die Verf. mit Recht den Kern der Ethik des Pan­aitios sieht (15 I), wird dann vom Harmonie­gedanken und von der Bedeutung der ‘Zu­stimmung) der Mitmenschen gesprochen. ­Im sechsten Kapitel (158-184) setzt P. die von ihr gewonnene Auffassung von der Ethik des Panaitios zutreffend vom ‘Rol­len’-Begriff der modernen Soziologie ab und steIlt das von ihr bei Panaitios gefundene Verständnis von Individualität dem moder­nen Individualitätsbegriff gegenlüber. Im letzten Kapitel (185-216) wird schliesslich das Nachwirken der erörterten Gedanken des Panaitios in der Renaissance, bei Shaf­resbury und in der Goethezeit verfolgt. In einem Anhang (217-254) bietet P. eine eige­ne Üebersetzung der „für das vorliegende Thema relevanten griechischen und lateini­schen Fragmente“ nach der Sammlung M. van Straatens (3. Autl, Leiden 1962). – Hier soIlte vermieden sein, dass im Kontext eine andere Uebersetzung erscheint als im An­hang: S. 59, 2. Absatz „Leidenschafren der SeeIen“, S. 225, F. 88 (richtig) „Bewegungen der Scelen“.

Wie der Ueberblick erkennen lässt, ist das begriffsgeschichtliche Element in dieser Sru­die sehr stark vertreten, doch stehen die Ge­danken des Panaitios im Mittelpunkt. Des­halb ist es in erster Linie inreressant, wie zuverlässig die Erörterung auf den Texten aufruht. Das bctrifft die Argumentation im driIten bis fünften Kapitel.

Der für die FragesteIlung dort fast aus­schliessIich einschlägige Text ist Ciceros Werk ‘de officiis’, in dessen beiden(!) ersten Büchern Cicero hauptsächlich der Schrift des Panaitios ‘perì toû kathékonthos’ folgt (de off. III 7). Nach der noch erkennbaren Gewichtung der Argumente bei Panaitios müssten nun P.s Kapp. 4 und 5 vor ihrem Kap. 3 stehen.

Bei Panaitios ging es m.E. um ein den Tu­genden entsprechendes Verhalten in der po­litischen Oeffentlichkeit; wird dieses, da es ‚prépon’ ist, also etwas, was Gefallen erwekckend aufleuchtet und in die Augen fällt (Ci­cero übersetzt es mit decorum), wahrge­nommen, erweckt es den Beifall der Mit­menschen. Dieses prépon ist besonders bei der vierten Kardinaltugend (sophrosýne) angesiedelt, ersrreckt sich aber auch über die anderen Kardinaltugenden, d. h. über den ganzen Bereich des kalón (bei Cicero: ho­nestum). Wer mit seiner Lebensform den BeifaIl der Mitmenschen gewinnt, hat auch ­- damit sind wir im Bereich des Nutzens (uti­le, d.h. in Ciceros zweitem Buch) – ihre wohlwoIlende Gefolgschaft in der Politik und kann mit ihrer Hilfe grosse Pläne ver­wirklichen. So ist das prépon, decorum der Drehpunkt zwischen guter politischer Mo­ral und der auf Zustimmung gegriindeten, nützlichen Gefolgschaft der Menschen.

In diesem grossen Zusammenhang haben die vier personae des Menschen nicht die zentrale Bedeutung, die P. ihnen zuweist, sondern dienen nur als Veranschaulichung und Anleitung zur Erkenntnis des prépon, decorum. Das flir Panaitios damir verbunde­ne Problem. wie man die Zuneigung dcr )Vlcnschen gewinnt und sie dadurch, ohnc Furchr erwccken zu miissen, flihrcn kann, har auch Scipio Aemilianus und Polybios bewcgr, die beide mir Panairios in Konrakr standen. 1

Des Panaitios Schrift soIlte auch keine theoretische Grundlegung der Ethik bieten, was die Verf. aber vorausserzt. sie war viel­mehr deutlich der politischen Realität zuge­wandt. Deshalb wählte sie Cicero auch als Vorlage für sein Werk de officiis, das – an­ders als die theoretische Schrift de finibus ­prakrisch-ethische Vorschriften bieten sollte (de off. I 5 u. 6; 117). Man darf deshalb nur mit Vorsicht einzelnen Argumenten dieser Schrift des Panaitios den Rang theoretischer Grundsätze zumessen.

Der grosse gedankliche Zusammenhang in der Schrift des Panaitios, in dessen Mittel­punkt das prépon steht, und der den Be­reich der Tugenden (d.h. Ciceros erstes Buch de off.) und zugleich den des Nutzens (d.h. Ciceros zweites Buch) umfasst, wird in dieser Arbeit nicht deutlich gemacht. Es wird zwar in Kap. 5 (151-157) über decorum und ‘Zustimmung’ gehandelt, die Bedeu­tung des decorum für den Bereich des Nut­zens wird dabei aber nicht ins Auge gefasst, Ciceros zweites Buch von de off. überhaupt nicht weiter erörtert, obwohl die zentrale Stelle (de off. II 16 = F. 117.) im Anhang (254) iibersetzt ist. – Bei ihrer Suche nach Ziigen von Individualethik findet nun P., nachdem sie die drei anderen personae dar­gestelIt hat, bei der vierten persona (Kap. 3.5; S. I08-121) „die Freiheit zur Per­son“ (I20). Wirklich ist dort (de off. I 115) von iudicium nostrum und nostra voluntas die Rede, kraft derer wir uns eine persona anpassen. Doch werden diese nach freier Le­benswahl klingenden Formulierungen durch Cicero im folgenden stark eingeschränkt: Es geht, wenn man das Wort ‘Karriere’ vermei­den will, darum, wie man sich hervortut, um die Geltung in der Gesellschaft als Philo­soph, Jurist oder Politiker zu erlangen.2 Meistens versuchen die Söhne, es den Vätern gleich zu tun oder sie gar zu übertreffen.

‘Bisweilen sehen einige (nonnulli) von der Nachahmung der Vorfahren ab und verfol­gen wirklich ihren eigenen Plan, am heftig­sten mussten in diesem Fall meistens (in eo plerumque) die sich mühen, die sich grosse Ziele setzen, obwohl sie nur Vorfahren ohne Rang haben’ (de off. I 116). Diese nonnulli haben also meistens keine Vorbilder und müssen sich deshalb – notgedrungen, möch­te ich hinzufügen – einen eigenen Plan ma­chen. Die Freiheit der Wahl ist begrenzt vorhanden, hier aber sicher nicht betont. Sie wird auch nicht durch die Erwähnung von Hercules am Scheidewege (de off. I 118) un­terstrichen, wie die Verf. (119) meint. Cice­ro führt Hercules vielmehr deshalb an, weil er im Gegensatz zu ‘uns, die wir (nur) nachahmen’, sehr lange überlegen konnte, wel­chen Weg er einschlagen sollte. Nur sehr wenige Hochbegabte und sehr gut Ausgebil­dete haben nämlich nach Cicero (de off. I 119) die Zeit, ihren Lebensweg zu wählen, und dies nicht frei, sondern im Hinblick auf ihre eigene Anlage (die zweite persona) und nach dem Masstab dessen, was sich ziemt. D. h. nur sehr wenige kommen, wie Cicero nüchtern feststelIt, in diesem Bereich der vierten persona überhaupt zur überlegten Anwendung des decorum-Masstabes.

Die vierte persona hat in Ciceros Schrift deshalb nicht die entscheidende Rolle, die P. ihr auf der Suche nach der freien Lebens­wahl zuschreibt; alle personae sind vielmehr im Spiel; ein grösseres Gewicht liegt m. E. auf der zweiten (de off. I 110-114), wo es gilt, seine eigene Anlage zu erkennen und sich als ein scharfer Richter seiner eigenen Vorzüge und Fehler zu erweisen (I 114)’ Die von P. gesuchte Freiheit der Wahl sehe ich allgemein bei den vier personae darin, dass der Mensch angesichts vorgegebener Grö­ssen (der allgemeinen Vernunftnatur des Menschen [für die erste persona], der spe­ziellen Anlage des Einzelnen [für die zweite persona], der vom Zufall aufoktroyierten Lage [für die dritte persona] und der im Ge­gensatz dazu – stark bedingt durch die ge­seIlschaftliche Stellung – wählbaren Karriere [für die vierte persona], die ihm angemesse­nen personae zu allererst erkennen, dann wählen und ausgestalten muss. Diese Wahl der Lebensform aufgrund ästhetisch-sittli­cher Erkenntnis seines eigenen Wesens ge­schieht aber immer – und das ist eine ganz wesentliche Einschränkung der Wahlfreiheit – im Hinblick auf den allgemeinen und blei­benden Masstab dessen, was sich vor den Augen der Menschen ziemt und was einem Gefolgschaft verschafft. Die Verf. hätte also beim Nachweis dieser – eingeschränkten ­Freiheit doch allgemein bei den personae, besonders bei der zweiten, ansetzen sollen, sich aber auch stets bewusst bleiben miissen, dass die individuelle Gestaltung des Lebens nicht das Argumentationsziel der Schrift des Panaitios war.

Andererseits vertritt P. ihre Deutungen in kluger Auseinandersetzung mit der doxo­graphischen Tradition; hier gibt sie man­chen hilfreichen Hinweis bes. zum Verhält­nis des Panaitios zum stoischen Naturbe­griff und zu den antiken Anschauungen von ‘Zufall’ und ‘Freiheit’. Ferner werden in die­ser Studie die bisher bei der Interpretation oft unrefIektiert verwendeten Begriffe und Uebersetzungen wie ‘Individualität’, ‘Cha­rakter’, ‘Rolle’ u.a.m. am Mass einer philo­sophischen Systematik geprüft. Hier hat P. verdienstvoll auf eine Klärung hingewirkt. Man wird in Zukunft die Bedeutung solcher Begriffe in ihrem jeweiligen philosophisch­-systematischen Kontext stärker im Auge be­halten mussen.

Trotz der weiter oben dargelegten Umge­wichtungen und Einschränkungen, die an der These dieser Arbeit vorgenommen wer­den müssen, hat die Vert. das Verdienst, Ge­danken des Panaitios mit moderner Begriff­lichkeit ganz unterschiedlicher Provenienz, wie die reichlich herangezogene Sekundärli­teratur zeigt, konfrontiert und die AktuaIi­tät dieser Gedanken erwiesen zu haben. Was kann einem antiken Autor Besseres zuteil werden?

1 Vgl. meinen Aufsatz: Polybios und Pan­aitios. UeberIegungen zu Polybios VI 3-9. WüJbb N.F. 7,1981,97-112.

2 Was Panaitios/Cicero im Bereich der vierten persona sagen, entspricht dem, was Polybios von der Hilfe berichtet, die er dem jungen Scipio Aemilianus angedeihen liess, als dieser ihn in Sorge um seine politische Geltung um Rat fragte (Pol. XXXI 23-26, B.- W.). Polybios baute damals Scipios Er­folg und Geltung in Rom wohlüberlegt auf, indem er ihn vor den Augen der Römer und mit ihrer staunenden Anerkennung ein von dem üblichen römischen Verhalten abwei­chendes, aber an den Kardinaltugenden orientiertes Leben führen lehrte.

Hans Armin Gärtner

Heidelberg

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